moserêthikê
 
Das Jahr bricht weg, in großen Stücken. Und das ist gut; es soll endlich vorbei sein.

+++

Ich wusste gar nicht genau, ob ich in München oder Hamburg war. Der Zug fuhr nach München, aber es fühlte sich wie Hamburg an. Und Dunkelheit ist überall.

+++

Nach vier Jahren saß ich ihm das erste mal wieder gegenüber im Büro. Sprechstunde. Es ist alles viel schicker jetzt. Schwarze Möbel. Große, türkise Kunst an der Wand. Als ich das Bild auf seinem Schreibtisch entdeckte, dasselbe, was auch ich habe, ein Bild von früher, da wäre ich am liebsten aufgestanden und hätte es berührt.

+++

Wir waren alle älter geworden. Die Wissenschaft macht graue Haare.

+++

Wehmut: Eine berufliche Familie gehabt haben, die man verlassen hat. Sie planen Weihnachtsfeiern, ich sitze allein, Tag für Tag.
Und doch wissen, auch in der Wehmut: Das wäre nichts geworden, all das Gerede, die Intrigen, die Politik, und nebenbei noch wahrhaftig bleiben.

+++

Das ist es, was ich am liebsten sagen würde, in all den Gesprächen: Ich bin auf der Suche nach Heimat.






 
Das chinesische Mädchen, das ich am Flughafen adoptierte. Sie reiste durch die ganze USA, um eine Universität zu finden, an der sie studieren könnte. Der Termin in Boston hatte sich kurzfristig ergeben. Sie war sehr aufgeregt und sagte immer wieder laut: Wenn ich es San Francisco geschafft habe, den Weg zu finden, dann wohl hier auch. Ich hatte viele Fragen an sie und fragte nichts. Sah dem Vögelchen nur zu. Hier habe auch eine ihrer Schwestern studiert. Sie fragte andauernd sehr laut alle möglichen Menschen nach dem Weg. Wie schnell mir das zu viel wurde. Ich wollte allein herausfinden, mich in die Stadt hineinfinden, ohne mein Fremdsein zu offenbaren. Ich kannte den Weg auch schon. Der U-Bahn-Plan war fest in meinem Kopf. Ich war erleichtert, als wir uns wieder trennten. Erst dann kam ich an.

Ich redete mit vielen Menschen. Und viele von ihnen waren im letzten oder vorletzten Jahr in Berlin gewesen. Wo sind die alle? Und wieso fahren sie hierher? Und sie guckten ganz liebevoll beim Gedanken an Berlin. Ich identifizierte viele Orte anhand vager Beschreibungen. Das Grill Royal, in dem ich selbst noch nie war. Ich saß an vielen Restaurant-Bars, wurde von freundlichen und hübschen Kellnern hofiert und lauschte den Gesprächen nebenan. Gibt es das hier auch, dass man sich bei Dates anpreist wie bei einer Bewerbung und sich und alle seine Macken erklärt und erklärt und erklärt? Beim ersten Treffen? Ich hörte viele solcher Anstrengungen, während ich Abend für Abend so gut aß, dass ich es selbst kaum fassen konnte. Boston war wie ein Traum. Da war er also, mein persönlicher amerikanischer Traum. Und ich verstand für einen Moment im Fenway Park diesen fürchterlichen Patriotismus, der von hier aus gesehen so fremd ist. Überhaupt sieht man von hier aus ja alles Schlechte. Ist das Deutsch oder Europäisch? Vielleicht ist es ja besser. Aber anstrengender ist es dafür auch.

Jeder einzelne Buckelwal ist identifizierbar. Die meisten von ihnen haben Namen. Meine drei Wale sind daher nicht irgendwelche Wale, sondern sie heißen Kakophony und Valley und dazu ihr Kalb, was erst noch einen Namen erhalten muss. Der Gedanke an die Namen macht mich sehr glücklich. Sie schwimmen zwischen Neufundland und der Karibik. Einen Wal da draußen zu berühren, Kontakt herzustellen, mit so einem Wesen zu kommunizieren, das wäre ein gewaltiges Glück.

Nördlich von Provincetown verlief ich mich fast in den Dünen. Es war ein existenzieller Moment. Es gab keinen Handyempfang, es gab nur Sonne, Gleißen, Sand, trockene Nadelbäume. Ich sah weder das Meer noch eine Straße noch Menschen. Nur Spuren im Sand, die keine Richtung hatten. Ich kam aus dem kleinen Europa, wo eine Düne zum Meer hinführt. Für ein paar Minuten überwältigte mich diese Panik. Ich ging im Kopf durch, was ich hatte: einen halben Liter Wasser, ein paar Kekse. Ich versuchte zurückzugehen, wie ich hergekommen war, doch es war wie im dichten Wald. Und Panik verdrängt den Orientierungssinn. Existenziell war auch, die Panik wieder fortzuschicken. Und hinterher, wenn einen Radfahrer überholen und der Bus nur eine Viertelstunde bis in die Stadt benötigt, fühlt man sich dumm und wie ein Nackter unter Bekleideten. Doch ich vermute, ich hatte etwas Wichtiges über dieses Land verstanden.

Ich bekam einen Sonnenstich und liebte Boston noch mehr als vorher.

Ich stand zum ersten Mal in meinem Leben vor einem Bild von Edward Hopper. Und es war wie in Paris vor vielen Jahren, als ich zum ersten Mal einen van Gogh sah. Der innerliche Zwang, das Bild mit den Fingerspitzen berühren zu wollen, ist fast stärker als man selbst. Aber am Ende beugt man sich doch den Regeln des Museums. Traurig ist das. Anders als van Gogh zeigt Edward Hopper in seinen Bildern meine Gefühle und deshalb musste ich fast weinen, als ich davor stand. Und ich lachte in die Stille des Raumes hinein, der vollgestopft war mit berühmten Namen, als ich die Geschichte von Andy Warhols Urin-Gemälde las, das da einfach so hing im besten Saal des Museums.






 
"Liebe ist: den leuchtenden Punkt der Seele des anderen zu erkennen und anzunehmen und in die Arme zu schließen, vielleicht gar über sich selbst hinaus.

Hass, vielleicht ist er etwas Ähnliches. Vielleicht hat jemand, der mich hasst, den leuchtenden Punkt meiner Seele gesehen und durch und durch erkannt, jedoch ganz ohne ihn anzunehmen und in die Arme zu schließen."

[Th. Glavinic, Das größere Wunder, S. 244/45]






 






 
Der Wunsch, den Atlantik auf einem Schiff zu überqueren.

CLE1

Orientierungslosigkeit und Fieber.

CLE2

Auf langen Fahrten mit dem Bus quer durch die große Stadt, als eine der wenigen Bleichen unter Dunklen, besiegte ich den Dämon des Fremdseins, indem ich ihn zum Verweilen aufforderte, und ich kam zur Ruhe.

CLE3

Rockefeller und Burning River.

Ein See wie ein Meer, dessen Wellen mich trugen. Möwen statt Schwalben.

CLE4

I'm a water person.

In der Neuen Welt fand ich endlich zu den Wurzeln zurück, die meinen Geist halten.

Ice cream soda, my love.

BOS1

Boston empfing mich mit offenen, geradezu liebenden Armen.

BOS2

Isabella Stewart Gardner und Anders Zorn.

Ich bin ein Geschichten-Mensch.

Ich aß weder Auster noch Hummer. Ich sah Buckelwale und Delphine.

BOS4

Innerlich bin ich all die, die anders sind.

BOS3

Ich war Statistin in einem Gemälde Edward Hoppers. Über mir eine Sonne, die zu hell war. Vor mir ein riesiges, kaltes Meer, das nur eines wollte: Verschlingen.

BOS5

I wanna drink like a man!

Den vierten Old Fashioned in Wally's Café spendierte mir der Barkeeper. Laut und heiß und wild war es dort. Die Band, der Sänger: Als ob James Brown persönlich erschienen war. Ob es in Berlin so etwas gäbe, fragte er mich. Am Ende versank ich in der festen Abschiedsumarmung einer großen, dicken Afroamerikanerin und schwankte glücklich zurück durch leise, kühlende, rotbeziegelte Straßen.

BOS6

.






Wir geben uns unverbindlich christlich
Manche nennen das Blasphemie
Die Sucht nach Macht schweißt uns zusammen
Wir schämen uns nie
Mit den Reichen können wir prächtig
Die Armen wollen nur an ihr Geld
Wir schützen und mehren es redlich
Und werden wieder gewählt

Mit Gott auf unserer Seite
Jesus in einem Boot
Einer ging leider baden
Doch wir warfen ihn noch rechtzeitig über Bord
Mit Gott auf unserer Seite
Jesus in einem Boot
Den Ablaß in unserem Namen
Das "C" strahlt über uns riesengroß

Wir wahren unser Pokerface nach guter alter Manier
Gefühle sind Luxus, weil wir hart sind, sind wir hier
Wir sind aus Gnade zu spät geboren
Haben mit Hitler nichts mehr am Hut
Wir sind Kreuzritter des Fortschritts
Zuviel Vergangenheit tut nicht gut
Den Blick nach vorn.






Whisky!






 
Maximale Anspannung und Entspannung wechseln im Stundentakt. Und wie in den Situationen der Verzweiflung neue Strukturen geboren werden. Neue Ordnungen mit ihren Imperativen.






 
Ich musste erst das große Meer überqueren, um wieder die Zuversicht zu finden, dass ich es auch dann schaffen werde, wenn ich bei allen Tänzen vor Personalern stolpere und auf den Boden knalle. Dass ich es dann eben allein schaffe.

Und ich musste auch erst auf dem Campus Harvards stehen - bei Sonnenschein, mit einem angenehmen Wind, mit dem Vibrieren von eifrigen Studenten, Wissensdurst, Ehrgeiz und Stolz in der Luft - um mir ganz sicher sein zu können, dass meine Entscheidungen wirklich richtig für mich waren, dass ich so ein Leben als Beruf nicht führen möchte.
Dass nicht dieses Leben das ist, was mir fehlt, sondern das Erleben von Konzentration und das Gefühl des Eroberns, wenn man griechische Texte liest. Doch das kann man ändern.

Und ich ließ den Campus hinter mir.







Abendliches
Abschiede
Aisthêseis
Atmungen
Bildnisse
Bildungen
Erga
Fänge
Kala
Leben
Lieben
Malakiai
Selbste
Vorhaben
Wahrheiten
Wörter
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren