moserêthikê

Bildnisse

 
Das Märchen von der Zeit und dem Padarzschühü

Einst trafen sich zwei Ziegen auf einer Waldlichtung. Es war zwar eine wunderschöne Abenddämmerung, aber die Ziegen hatten so ihre Sorgen. Sie schüttelten die Köpfe, als ob sie Fliegen vertreiben wollten, und konnten sich kaum ‚Hallo’ sagen, so sorgenvoll waren sie. Ihr Problem war die Zeit, die machte, was sie wollte, und die sie nicht verstanden, so sehr sie es auch versuchten. Die erste Ziege erklärte es der zweiten Ziege so: „Ich verstehe dieses Ding, die Zeit, nicht; es will mir einfach nicht gelingen. Immer renne ich umher, organisiere und plane, mache und tue. Laufe von einem Ort zum nächsten; eine Ziege sagt mir dies, die nächste das, die dritte jenes, und immer tue ich, was sie sagen, laufe hierhin und dorthin und wieder zurück. Und während ich mich so bewege und renne und mache und tue, ständig neuen Zielen hinterher, hat sich alles immer schon verändert. Ich kehre um, auf ein Neues, und schon wieder hat es sich verändert. Immer stimmen meine Pläne nicht mehr. Alles entwischt mir. Ach, ach!“ Sie seufzte sorgenvoll und schüttelte den Kopf. Die andere Ziege schaute sie voll Mitleid an und sprach: „Das ist merkwürdig. Wie kann das sein? Ich verstehe das Ding auch nicht, dabei ist bei mir alles ganz anders. Immer warte ich und warte ich. Sitze da, ganz ruhig und selbstsicher auf meinen Hinterbeinen, harre geduldig der Dinge und gucke und schaue. Aber denk nur, obwohl ich sitze und gucke und aufpasse ist plötzlich alles ganz anders geworden. Mit einem Mal, ohne Vorwarnung. Ich warte plötzlich ohne Ziel. Mein Warten ist falsch. Also warte ich auf etwas anderes. Und so vergeht das Leben. Ich erwische die Zeit nicht und kann nicht folgen. Ach, ach!“ Die zweite Ziege seufzte und schüttelte sorgenvoll ihr Ziegenhaupt. Die beiden Ziegen wunderten sich, was die Zeit sei. Wie konnte sie immer entwischen? Wie konnte immer alles zu spät sein, wo sie doch so auf sie achteten? Keine der beiden bemerkte den grauen Haufen neben ihnen, der plötzlich zwei Augen öffnete, die strahlten wie zwei gelbe Sonnen. Die Ziegen erschraken aufs Fürchterlichste und drängten sich zitternd aneinander. Da sprach der graue Haufen mit quietschhoher Stimme zu ihnen: „Fürchtet Euch nicht, Ihr Ziegen. Ich bin das Padarzschühü; ich helfe Euch aus Eurer Not.“ Die Ziegen waren irritiert und ängstlich und ungläubig. Doch da faltete das Padarzschühü seine zwei langen, spindeldürren Arme auseinander, jeder zwei Meter lang mit langen Fingern wie Spinnenbeine und sagte: „Ich werde Euch das Geheimnis zeigen, denn ich bin das Padarzschühü.“ Und seine Arme und Finger wirbelten durch die Luft in der Dunkelheit, schnell, immer schneller um es her in allen hier und anderswo möglichen Bewegungen, hin und her und rauf und runter. Die Ziegen wussten nicht, wie ihnen geschah. Immer schneller ging es. Die Ziegen sahen nicht mehr, ob das Padarzschühü Millionen Arme oder gar keine hatte. Dann öffnete sich für einen Moment die Welt. Die Ziegen bekamen rote Augen. Sie sahen nun, was die Zeit war. Dann, einen Mückenflügelschlag später, war alles vorbei. Dunkelheit. Das Padarzschühü sagte knirschend: „Nun wisst Ihr es: die Zeit ist eine Ziege.“ Dann schloss es die Augen und saß grau und leblos da. Die Ziegen aber standen wie vom Donner gerührt, schüttelten ihre Köpfe und verstanden es nicht. Sie gingen verwirrt ihrer Wege und machten weiter wie bisher.







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